Bei Mir

2022

Ich schaue in zwei Gesichter. Vom einen zum anderen. Schmal und edel. Vom anderen zum einen. Braungebrannt und sonnengeküsst. Suchbild. Finde ich den Unterschied? Im Spiegel rinnt eine weiße Masse aus deinem Mundwinkel. Zieht eine Straße über das Kinn. Im anderen Gesicht ist das ebenso. Ich pruste los. Das sieht zweimal genau gleich lustig aus. Unmöglich zu entscheiden, aus welcher Perspektive ich mehr lachen kann. Deine Mimik zeigt größtmögliche Teilnahmslosigkeit. Was den Witz noch mehr anfeuert. Da kommt ein kleines weißes Stück zwischen den Schneidezähnen heraus. Purzelt über die weiße Straße. Schreckt mich. Patzt auf deinen schimmernden Seidenoverall. Dir völlig egal.

“Das hast du zu Fleiß gemacht! Du hast die Zahnpasta im Mund geformt. Sie als waschechten Zahn ausfallen lassen. Der Beißer ist leider so kaputt, dass er sich auf dem Weg über dein Kinn auflöst!”

Was ich unter Gurgeln und unfreiwilligem Pastaspucken herauslasse, bleibt zum größten Teil sogar mir selbst unverständlich. Aber du kannst dir schon denken, um was es geht. Schüttelst wild die schwarzen Locken hin und her, ein Korkenzieher schlingt sich dabei um den Zahnbürstenstiel – nach wie vor mit ärgster Langeweile im Gesicht. Du streifst die Locke ab und lässt die pinke Bürste lässig im Mundwinkel hängen. Lider auf Halbmast. Siehst aus wie eine südländische Version von Marilyn Monroe. Schmauchst den Stiel als Pfeife. Inhalierst. Schaust mich an. Bläst unsichtbaren Rauch aus. Erwartungsvoll. Weil jezt bin ich dran. Lasse mir Zeit. Will einen Moment abwarten, in dem du dich in Sicherheit wähnst. In dem du völlig im Putzgeräusch verrinnst. Im diffusen Gedankenmeer rückenschwimmst. Ich will sehen, wie sich deine Pupillen leicht schräg in Richtung Nasenbein schieben. Von dort ins Narrenkastl eintreten. Das werden sie sein: Die Momente meines siegessichtenden Triumphs. Kurz darauf hole ich dich raus. Mit einer Lachkrampfzähneputzbombe, die sich mit Mintgeschmack gesalzen hat. Jetzt drehe ich mich erst mal um. Du sollst dich nicht von meinen stierenden Äpfeln ablenken lassen und auf meine Präsenz vergessen. Tust du aber nicht.

“Fertig mit dem Schonwaschgang? Watteweiche Wolle Supersoft war das, oder?”

“Hm?”

 

Achso, du begutachtest meine Waschmaschine. Du hast direkte Einsicht in die Waschtrommel unter meinem Pferdeschwanz. Dein handgefertigtes Tatoo. Auf meinem Halswirbel. Es begann mit einer schmalen Mondsichel im Vollmond. Unter ebendiesem Mondschlitz traf ich dich einst. Und im darauffolgenden Vollmond ging ich von dir weg. Als ich wieder zurückkam, wollte ich bleiben. Also stachst du ein Kästchen um die zwei Monde. Irgendwann brachten wir das Werk mit großem Eifer und heißer Nadel ins Dreidimensionale. Ich zeichnete und du stachst Schatten und Farbfelder. Eine bunte Box. Mit einem großen runden Loch in der Mitte, das einst die Silhouette der Monde darstellte. Glatter Durchschuss: Ein Stück ungefärbter Haut scheint durch die Öffnung. 

Eine durchlöcherte Box im Nacken ist gemeinhin ein eher mühsam argumentierbares Tatoomotiv. Auf lästige Fragen antworte ich deshalb mit “Ja, genau. Richtig geraten: Das ist eine bunte Waschmaschine”. Eine tolle Erfindung, also wieso sollte ich nicht bis an mein Ende eine im Genick sitzen haben? 

Aber: Was ist jetzt mit … Dir? Schaue nach hinten. Du putzt unmotiviert vor dich hin. Die Locken haben sich wie ein Vorhang über deine Augen gelegt. Vielleicht bist du dahinter zur Ruh gegangen? Hast jedenfalls schon wieder ganz auf den Fortschritt des Waschganges vergessen. Wusste ich’s doch … du wolltest nur Zeit schinden. Und mich aus meinem Konzept bringen. Ist dir gelungen. Welches Konzept hatte ich eigentlich? Ach ja: Warten. Bis du zu warten aufhörst. 

Dir dann die speicheldurchzogene Paste aus dem Maul treiben. In alle Himmelsrichtungen soll sie spritzen! Wie viel davon wird die Scheibe zwischen uns abbekommen? 

Drehe mich um. Starre dir ins Gesicht. Ich muss den Moment erkennen, in dem du abdriftest. Auf unser Spiel vergisst. Deine Pupillen folgen genauso träge dem müde putzenden Bürstenkopf. Oben, wenn die Zähne des Oberkiefers dran sind, von links nach rechts, dann rapider Wechsel: Die Lider stürzen ab, im Unterkiefer sind die Zähne dran. Wieder hin und her. Du machst das gar nicht, um mich zum Lachen zu bringen, ich weiß: Es passiert dir einfach. Und dem zufolge wäre das die allerbeste Zeit, um dich zu überfallen. Lautes Lachen entkommt aber wieder nur mir, weil ich die Glubscherbewegung in jeweiliger Bürstenrichtung nicht aushalte. Bestimmt folgt auch die Zunge in deinem Mund diesen Moves, muss ich mir vorstellen – unbeabsichtigt, versteht sich. Bei diesem Gedanken breche ich vollständig weg. 

“Streck mal deine Zunge heraus, während du putzt!” 

Hast du mein verlachtes Gegurgle verstanden? Ich erwarte Augenrollen oder einen genervten Gesichtsausdruck. Stattdessen aber tust du es. Völlig unbeeindruckt von dem vielen weißen Pastaschleim, der dir dabei auskommt. Und treibst mich damit in den Wahnsinn.

Um nicht zu ersticken, muss ich mein gesamtes Putzmittel in einem Schwall ins Waschbecken entleeren. Was für eine Vergeudung! Was für eine Niederlage. Ein paar Tränen entkommen mir. Ob vor lauter Lachen oder Loosen bleibt selbst für mich fraglich. Dir gefällt der schöne Farbkontrast auf der dunkelblauen Keramik. Noch besser gefällt dir aber, dass ich verloren habe. Erleichtert spuckst auch du den Rest der Putzmasse ins Becken. Zwei schneeweiße Zahnreihen strahlen mir entgegen. Du fährst mit der Zunge darüber, als würdest du dich von der ungeheuren Sauberkeit selbst überzeugen wollen. 

“Mach mal kurz eine Pause im zahngesunden Freudenfest und sonne dich alleine unter deinem Siegesstrahlen, ich muss einen Pickel am Kinn ausdrücken.” 

Wie auf Knopfdruck bist du weg. Kaum fertiggesprochen. Du hattest es offensichtlich eilig. In Wirklichkeit bin ich es, die eine kurze Pause braucht. Von deinem Gesicht. Ich rolle wild mit den Augäpfeln. Die Bälle brennen. Tröpfle Wasser vom Zeigefinger ein. Das macht sie auch nicht viel saftiger. Schaue aus dem Fenster in die Weite. Das könnte helfen. 

“Halloo, fertig mit dem Pickel. Was tun wir jetzt? Wonach steht dir der Sinn?”

“Wie wär’s mit Essen?”

“Warum wundert mich das nicht? Essen oder Schlafen, andere Antworten höre ich selten auf diese Frage. Na gut, dann … Aber wir haben doch gerade erst die Zähne geputzt!?”

“Das macht nichts, glaub mir. Essen vor und nach dem Zähneputzen funktioniert problemlos. Was ich von dem währenddessen nicht behaupten kann … Was das Schlafen betrifft bin ich mir sicher: Das können wir bestimmt gut nach dem Essen. Ich gönne mir immer gerne ein Mittagsschläfchen. Und für dich ist es dann schon fast Zeit für die Abendruhe.”

“Was sollen wir kochen?”

“Hmmm, lass mich einen Blick in den Kühlschrank werfen. Hast du Fleisch?”

“Ja.”

“Mit Kartoffeln?”

“Passt.”

“Magst du währenddessen Musik hören? Ich habe schon zu lange keinen amerikanischen Pop gehört. Fernweh garantiert! Wir können dazu tanzen, während das Fett brutzelt und die Topfdeckel vibrieren.”

“Okay. Ich hab’s: Wer gerade am Herd arbeitslos ist, imitiert eine Szene aus einem bekannten 

Live- Auftritt der Stars! Die Andere muss raten.”

Das mag wohl wie ein nahezu unmögliches Unterfangen klingen, wären wir nicht beide Popmusikvideofetischistinnen, famose Tänzerinnen und Youtube unsere dritte Heimat. 

“Du machst den Anfang. Hast ja schon Wasser aufgestellt, wie ich sehe. Sehr fleißig. Ich schneide die Kartoffeln, während du los legst.”

Ich weiß schon genau, wohin mich die Imitationsshow verschlägt: Auf den Mond. Mache mich mutig auf den Weg. Volumen der Strereo aufgedreht, Schallmauer durchbrochen. Pferdeschwanz auf, Moonboots in Gedanken an: Die feinen Strähnchen sind headbangtauglich und tanzen nach ihrem eigenen Kopf. Die Sohlen extraheiß und ready fürs Parkett. 

Ziehe als Startschuss meiner Show einen unvorhandenen Hut. Lasse ihn vor mir auf den Boden fallen. Federe knapp daneben geschickt einen Bauchfleck ab. Dabei springt mir der Hut wie von selbst zurück auf die Melone. Ich muss Spannung aufbauen. Fasse mir in den Schritt und springe mit geschlossenen Beinen. Das wäre in Hochwasserhose und polierten Halbschuhen wirkungsvoller. Muss mich aber mit meinem gemütlichen Jogginganzug und den rosaroten Hello Kitty Socken begnügen. Und mich auf deine Ratekünste verlassen. Aufgestiegen. Hoch. Und angekommen. Am glatten Parkett ausgerutscht. Gerade noch in erwünschte Position geslidet. 

Haare vom Mondwind in den Nacken geweht. Fahre in leisen Sohlen rückwärts über den Boden. Das geht besser als gedacht. Schiele hinter meinen imaginierten Moonglasses hervor. Lege noch eine zweite Runde ein, in der ich dich mit einem Augenaufschlag unter der Hutkrempe beehre. Rechte Hand am Hut. Linke Hand in der Hosentasche. Schlusstakt. Zeigefinger auffordernd auf dich gestreckt. Kopf gesenkt. Galaktisch elektrisch geladener Strähnchenvorhang über dem Gesicht. Erstarre zu Eis. 

“Jacksons Moonwalk! Tanzte er live unter anderem zu Billie Jean. Bist du wahnsinnig!?! Das war viiiiel zuuu leicht!”

“War ja erst die Aufwärmrunde. Die Kartoffeln müssen ja auch erst langsam heiß werden. Das die Auswahl der Showeinlage zu einfach war, ist alles was du zu bemängeln hast? Ich erwarte mir ein ausführlicheres Feedback der Jury.”

“Wenn du darauf bestehst… Den sonnenempfindlichen Teint Michaels in späteren Jahren hast du, das muss ich dir lassen. Mit deiner Porzellanhaut wirkst du ebenso zerbrechlich. 

Die Form deiner Nase weist eine gewisse Ähnlichkeit auf … auch der Schwung deiner dunklen Augenbrauen. Die wasserblauen Augen, das blonde glatte Haar und deine kurvige Silhouette passten mir nicht ganz ins Bild. Die aufgeheizte Atmosphäre seiner Show brachtest du mit deinen technisch ausgefeilten Moves so gut rüber, dass ich mich immer wieder ganz in der Nähe des Kings wähnte. Genug aber jetzt mit meiner Kritik!” 

“Ja, weil jetzt bist du dran. Ich salze das Putenfleisch, während ich mir deine hoffentlich scharfe Performance gebe.”

Hmmm. Mein Salzstreuer ist wohl mit besonders rieselunfreudigem Material befüllt. Da kommt überhaupt nichts raus. Hätte ich doch ein paar Reiskörner im Salzsee versenkt. Ah, aber jetzt beginnt deine Show. Meine Salzschüttelbewegung legt sich passgenau in den Takt, der deine Imitation einleitet. Du nimmst das Luftmikrofon vom Luftmikrofonständer und kündigst an:

“Für diese sexy Performance habe ich meine Assistentin eingeladen. Ich gebe ihr Backstage Bescheid.”

Assistentin? Davon war nie die Rede. Unsere bisherigen Ratespiele spielten wir immer nur zu zweit. Wo nimmst du die jetzt auch so plötzlich her? Fühle, wie mir die Eiversucht ihre scharfen Zähne in den Nacken rammt. In der kurzen Zeit, während du abtrittst, um “deine Assistentin” zu holen, steigt mir die Hitze in die Birne. Ins Dunkel eingefrorener Blick. Erwarte dein Gesicht zurück im Scheinwerferlicht. Hoffentlich alleine. Brenne vor Neugierde und Spannung. Das Kartoffelwasser kocht. Ist mir gerade scheißegal. Soll es nur munter weiter brodeln. Salzige Blasen werfen. So wie meine aufgebrachten Magenflüssigkeiten. Starre wie gebannt auf die improvisierte Küchenbühne, auf der ich dich jederzeit zurück erwarte.

Da tauchst du auf. Mit gelüberzogenen Locken, die ein Eigenleben entwickelt zu haben scheinen. Das geht absolut nicht mehr als Haare durch. Es handelt sich wohl eher um lebendige Spiraltierchen, die es sich auf deinem Kopf gemütlich gemacht haben! Und einer Barbiepuppe in der Hand. Sie trägt wie du, gut gebräunten Urlaubsteint und ein lack-ledriges Nietenoutfit. Das also ist deine Assistentin. Im megaschrägen Aufzug. Der eiversüchtige Vampir in mir nimmt die scharfen Zähne aus meinem Fleisch und zieht peinlich berührt den Kopf zwischen die Schulterblätter. Ja, hau jetzt besser ab und schäm dich. Ich will die Show genießen! 

Du greifst nach dem Mikro, das offenbar in der Zwischenzeit selbsttätig seine Position verändert hat. Schmetterst inbrünstig den aktuellen Hit hinein. Dann und wann beehrst du die dunkelhäutige Barbie mit ein paar Takten Sologesang. Es handelt sich wahrscheinlich um deine Backgroundsängerin oder Bandkollegin. Ihr beide kommt euch näher. Du wirbelst sie herum, drehst sie um und klatscht ihr dann auf den Hintern. Sie stolziert unbeeindruckt weg. Du ihr hinterher. Erwischst sie. Ziehst sie zu dir her. Dein Kopf neigt sich zum ersten Kuss. Du stoppst. Wirst unterbrochen von den Endtakten des Liedes. Du deutest mir mit lockendem Zeigefinger, ich solle so nahe wie möglich an die Szene rankommen. Schalte meine Glubscher auf manuellen Zoom. Näher geht’s nicht. Mit spitzen Zeigefingern zwickst du deiner Assistentin die Korsage auf, ziehst sie hinunter und entblößt…

“Justin Timberlake und Janet Jackson: NIPPLEGATE!”

Nichts hätte mich davon abhalten können, die Auflösung lauthals herauszuschreien.

Du drehst den Sound leiser und streichst dir die Locken zurück, die das gar nicht benötigen würden. Sie kleben dir ohnehin noch wie Spiralröhrenwürmer am Kopf und tun, was sie wollen.

“Während des Songs “Rock Your Body”! Werde ich niemals vergessen!”

Du lächelst und nickst. Bist offensichtlich erschöpft. Gibst der Barbie einen dicken Kuss. Verbeugst dich vor ihr. Legst sie weg. Hast dich wohl völlig verausgabt. Hat sich ausgezahlt.

“Gut geraten. Wusstest du, dass seit diesem Skandal der Super Bowl mit fünf Sekunden Zeitverzögerung ausgestrahlt wird?”

“Haha, So wie ich manchmal erst fünf Sekunden später höre, was du sagst.” 

“Erreicht es fünf Sekunden später dein Ohr oder dein unaufmerksames Aufnahmezentrum?”

“Hmm… Lass mich das bei der nächsten Verständigungsverzögerung analysieren. Kompliment übrigens für deinen Haarstyle. Am Beginn seiner Karriere trug Justin eine ähnlich skurrile Frise: Eingefettete Spirali unklaren Ursprungs. Weder Echthaar noch Perücke. Nur in Blond.” 

“Meine Assistentin half mir Backstage mit den Haaren, sie entpuppte sich als äußerst geschickte Stylistin. Für das Blondieren fehlte ihr leider die Zeit.”

“Aha … Jetzt bin ich wieder an der Reihe. Halte dich fest. Diese Show wird dich vom Küchenhocker hauen und dem Kartoffeltopf den Deckel wegschnalzen. By the way: Der kocht hinter dir fast über, magst du den Herd nicht ein wenig runterdrehen?”

“Hast recht, die Kartoffeln haben noch lange genug Zeit zum Köcheln. We’re ready for you, babe.”

“Gib mir noch eine Minute. Auch ich muss Vorbereitungen treffen. Für diese Nachahmung der Extraklasse brauche ich Hilfe. Von meiner Nachbarin. Sandy, du weißt ja: Sie ist schauspielerisch sehr begabt. Ich war mit ihr im Impro-Theater Kurs.”

Sehe unter den fettigen Locken deine Augen groß werden. Grinse vor Überschwang wie ein Kind. Springe rüber und läute an der Nachbarswohnung. Läute einmal. Warte kurz. Voller Ungeduld. Komm schon! Klopfe. Läute nocheinmal. Läute Sturm. So aufgeregt bin ich. Sie muss einfach da sein. Piesle mir fast ins Höschen. Sie öffnet mir. Endlich. Im Schlafmantel. Schwere Augenlider. Polsterabdruck. Fragender Blick. Mit Lockenwickler. Sie hebt eine Augenbraue. Besser könnte sie gar nicht aussehen. Super Aufzug für die Show. Krasser 80er Jahre Bademantel in Neonfarben. Schnell hasple ich mein Vorhaben herunter. Packe sie am Ellenbogen und will sie mit mir ziehen. Warte kurz! Aah: Sie will noch in die Hauspantoffel schlüpfen. Ohne Widerrede oder unnötiger Fragerei folgt sie mir daraufhin an der Hand. Wusste ich’s doch: Sie ist die Richtige für die Rolle. Kurz vor Auftritt bereite ich mich vor: Im strengen Pferdeschwanz alle Haare aus dem Gesicht. Roter Lippenstift. Kapuzenjacke aus und im hautengen schwarzen Top auf die Bühne. 

Wir treten auf. Du hast nach wie vor denselben erwartungsvollen Blick. Klappe und Action, bitte. Als du uns vor die Linse bekommst, treten deine Glubscher noch weiter aus ihren Höhlen hervor. Ich will Einspruch erheben: Die rollen ja aus! Verlieren sich am Boden. Dort werde ich sie garantiert nicht mehr wiederfinden! Soll aber nicht mein Problem sein. Im Moment jedenfalls nicht. Ich muss mich auf mein Hier und Jetzt konzentrieren: Auf unsere Show. Flüstere Sandy eine letzte Regieanweisung ins Ohr. Beschreibe ihr meinen Bewegungsablauf, der ihren Einsatz einleiten soll. Du kniest vor mir am Boden, ich bin zuerst noch mit irgendwas beschäftigt und wenn ich mich zu dir wende, dich unter dem Kinn fasse und zu mir heraufziehe, dann… get up to rock … ! 

Sandy nickt mit ernstem Gesicht. Ihre Augen sind immer noch ein wenig schläfrig. Das wird sich bald ändern!

Checke deinen Blick: Nach wie vor riesig starrend. Der irre Farbenreichtum von Sandy’s Bademantel scheint es dir angetan zu haben. Der Kartoffeldeckel hinter dir dampft und wackelt. Den bringen wir hoch hinaus: In heißeste Lüfte. Ich drehe den Sound lauter. Der Deckel tanzt im Beat. Ich tanze mit. Sandy nickt, dass ihre Lockenwickler sich lösen und schwingt den Bademantel. Sie bewegt sich, bringt aber nicht zu viel Action: Wie ausgemacht. Sonst stiehlt sie mir noch die Show. Bin voll in Fahrt. Werde von den Scheinwerfern geblendet. Bin allein. Mit ihr. Wir sind die Stars. Nehme Sandy an der Hand und drehe sie. Hurtig um die eigene Achse. Sie macht dasselbe mit mir. 

Da rückt mir der Refrain im Song auf die Pelle. Ich erinnere mich an das geplante Highlight und an deinen großen Kugelblick. Riskiere einen Gander dorthin. Du starrst. Folge deiner Blickrichtung. Du bestarrst Sandy an meiner Hand. Jetzt will ich’s dir umso mehr zeigen. Schau nur, wie schön. Sie ist. Und sie geht voll im Sound auf. Hat sich selbst vergessen. Schlenkert mit den Armen, wiegt den Kopf. Hat die ungeschminkten Augen geschlossen. Hat ganz offenbar den Einsatz verpasst. Ich lege ihr also die Hand auf die Schulter. Drücke sie. Unwirscher als geplant. Sie steigt aus ihrer Trance. Schaut mich verdutzt an. Geschickt baue ich zwei kurze Hip Swings ein, um ihr Zeit zu geben. Sie ist wieder bei der Sache. Geht langsam neben mir auf die Knie. Jetzt läuft’s wieder wie am Schnürchen: Sandy senkt devot den Kopf, während ich mich auf der anderen Seite im Waving übe. Lasse ein wenig Zeit vergehen. Baue Spannung auf. Überaus starker Wellengang, heute. Luge auf dich. Surferwetter, was? 

WAAAS? Jetzt sehe ich es ganz klar und deutlich: Du gaffst in Bodennähe! Zu ihr! Also ist es Zeit für mich. Jaa, gib dir das: Beuge mich zu Sandy, fasse sie unterm Kinn und ziehe sie zärtlich zu mir herauf. Streiche ihr das unvorhandene Haar aus dem Gesicht und lasse meine Lippen auf ihre sinken. Schön, so weich! Da mag ich gerne noch ein bisschen bleiben. Sie öffnet ihren Mund einen Spalt breit. Nimmt meine neugierige Zunge in Empfang. Ich höre nichts. Dumpf mein Kopf. Ich sehe nichts. Pochen unter meinen Augenlidern. Ich spüre nur angenehme Softness. Verliere mich darin. Zeit steht still. Nur für mich. Und für Sandy vielleicht. Ein Störgeräusch reißt mich raus. Da bist du ja: Räusperst dich, hüstelst, keuchst. Gibst unangenehme Geräusche von dir. Zu viele. Zu laut. Ich drehe die Musik leiser.

“Ein Glas Wasser, Hustinettenbärin?”

Du hast Tränen in den Augen. Sie rinnen dir über die Wangen. Beugst dich vornüber. Verschwindest kurz. Wahrscheinlich unter dem Küchenhocker. Holst tief Luft. Hängst noch zwei Huster hinten an. Seufzt. Tauchst wieder auf. Mit wässrigen Augen, die Tränen hast du weggewischt. Deine Hand umklammert die offensichtlich schmerzende Kehle.

“Geht schon wieder. Hab während eurer Show einen Kartoffel getestet. Wohl zu viel Cayennepfeffer darüber gestreut. Schärfe steckt mir noch im Hals. Nette Performance, übrigens…”

Opppaaa, ich muss wohl on stage ein bisschen weggedriftet sein. In Hohe See gelangt. Von Monsterwelle mitgerissen. Weggedriftet. Von dir. Bin noch immer ein wenig high. Vom Stardoom überfressene Rampensau in der Hitze des Gefechts … 

Dein Gesicht zeigt Trübheit. Jetzt tut es mir leid. Ein bisschen. Ich danke Sandy für ihre Hilfe und verabschiede mich von ihr. Sie lacht laut, wirkt plötzlich putzmunter, gibt mir ein Küsschen auf die Wange, winkt dir zu und springt frohgemut in Richtung Haustür. Am Weg verliert sie einen Hausschuh und holt ihn kichernd. 

Klopft sich damit selbst auf den Hintern, während sie im Pferdegalopp abtritt. Eine geborene Showmasterin, unleugbar! Mit einem Knall fällt hinter ihr die Wohnungstür zu.

“Und … hast du’s erraten?”

“Klar… Es war der legendäre Zungenkuss zwischen Madonna und Britney Spears bei den MTV Music Awards. Muss irgendwann in den Nullerjahren gewesen sein. 

Die zwei sangen gemeinsam mit Christina Auguilera “Like a Virgin” und “Hollywood”. Schade nur, dass ich euch zwei nicht als stimmgewaltige Rockröhre ergänzen konnte. Die schwarzen Locken von Chris hätte ich ja …”

“Du warst beschäftigt mit deinem Job als Rätselkönigin. Auf zwei Hochzeiten tanzen, na du weißt ja … Außerdem wäre einfach nicht genügend Zeit gewesen, um dich pünktlich zur Preisverleihung nach New York City einzufliegen.”

Du zuckst mit den Schultern. Tust normal. Schaust aber irgendwie ein bisschen durch den Wind aus. Wie in einen Wirbelsturm gekommen, ausgeworfen und schlussendlich links liegen gelassen. Von mir. Mundwinkel hängen. Schwer die Lider. Gefüllte Tränensäcke. Die dunklen Glubscher darüber glanzlos, sofern ich das beurteilen kann. 

“Ich bin müde. Will jetzt schlafen.”

“Okay, legen wir uns eine Runde aufs Ohr. Aber… was ist mit dem Essen?”

“Schalten wir den Herd während des Schäferstündchens einfach ab. Wir können das Fleisch nachher in die Pfanne hauen. Auch die Kartoffen warten mit dem geröstet werden auf uns.”

Wir wählen die zwei Sofas mit Couchtischen, um Aug’ in Aug’ einzuschlafen. Wie immer schaue ich dir ins Gesicht, während du vom Schlaf überfraut wirst. Erst, wenn du sicher ins Traumland eingetreten bist, kann auch ich schlafen. Egal wie müde ich bin. Normalerweise muss ich nicht lange darauf warten: Schon nach ein paar Minuten schlummerst du tief und fest. 

Gerade habe ich den Polster weichgeboxt, da sehe ich schon Ladenschluss bei dir. Einen kleinen weißen Gruß deiner Augäpfel fange ich noch ein, da greifen die zwei schwarzen Wimpernkränze schon ineinander. 

Jetzt möchte ich mir noch dein Mundwerk genauer anschauen. Die Lippen haben einen Violettstich. Krasse Naturmundfarbe! Und du kannst bis heute nicht verstehen, warum ich dich am allerliebsten ohne Lippenstift sehe. Zum Mundwinkel hin sind sie verschnörkelt nach oben gedreht. Wie… ja wie eigentlich? Wie die der Freundin Aladins. Jasmin hieß sie, oder? Nein, ich meine… eher wie Aladins Wunderlampe. Nicht die Wunderlampe selbst, sondern ihr Ausschankröhrchen. Tülle nennt man das doch, nich wahr? Jetzt wünschte ich mir sehnlichst, ich hätte anstelle von Sandy’s diese Tüllelippen geküsst. War zwar cool, eine scharfe Sache, ein kurzer Thrill, eine gute Show. Kann aber nicht mithalten mit der Wohltat, die ich spüre, wenn ich dich küsse. Geborgenheit. Zu Hause sein. Angekommen. 

Sehnsucht danach. Vermissen. Will dich wecken. Es dir mitteilen. Lausche deinem gleichmäßigen Atem. Als wäre am Ort seines Ursprungs nichts als Ruhe. Kann ihn nicht stören. Warte darauf, dass er von selbst anhält, um aus seinem Paradies zu steigen. Du zu mir zurückkommst. Ohne Anfang und Ende wirst du weiter aufgeblasen und entleert. Als könnte dich nichts aus dem Schlaf holen. Wie ein Baby kommst du mir vor. So vertrauensvoll in den Traum eingebettet. Ich kann dich nicht wecken. Niemand kann das.

Sehe, wie hinter dir jemand die Wohnzimmertür aufreißt. Einen kurzen überraschten Laut ausstößt. Der abbricht. Mich völlig aus meiner Entspannung reißt. Ich hebe den Kopf. Bekomme einen scheuen Blick zugeworfen. Aus einem männlichen Gesicht. Es zieht sich zurück. Die Tür wird hinter ihm wieder geschlossen. Ich bin hellwach. Wer war das?

Dich kann ich auch nicht fragen. Nichts davon ist bis zu dir ins Traumland vorgedrungen. Du bist wie in Watte gebettet und zusätzlich dank einer Wachsschicht schallisoliert. Ich kann nicht mehr schlafen. Jegliche Müdigkeit hat sich verzogen. Mein Herz gibt den Takt vor: Pocht noch immer im high speed. Fixiere für ein paar Minuten die geschlossene Tür hinter dir. Kommt er zurück? 

Drehe irgendwann mein Gesicht nach oben und lege mich auf den Rücken. Er kommt wohl nicht mehr. Lausche deinem gleichmäßigen Atem. Dann liege ich eben wach. Und warte, bis du zurückkommst. Egal, wie lange das dauern wird. Ich möchte dir dabei nicht mehr ins Gesicht schauen. Will trotzdem sichtbar sein, wenn du erwachst. 

Ich hieve mich an deinem gleichmäßigen Rachenrasseln die ersten Stiegen einer Wendeltreppe entlang nach oben. Von ihrem obersten Punkt kommt mir ein gleißendes Licht entgegen. Es saugt an mir. Ich muss hinauf. Und werde zugleich wahnsinnig, wenn ich daran denke: Ich in dieser herumstrahlenden Suppe. Verloren gehend! Diese Helligkeit muss mir doch den Geist vernebeln und meinen Körper in seine Elementarteilchen auflösen! 

Konzentriere mich wieder auf den Weg. Das Steigen ist mühsam: Die Stiegen sind Blasebälge, die sich selbständig mit Luft füllen. Trete ich auf einen, strömt sie pfeifend aus. Die ausgetretene Luft ist getunkt in diese Helligkeit. Von dem überirdischen Licht dort oben gespeist! Versuche, etwas davon zu erhaschen. Der Schein wischt mir zwischen den Fingern durch und treibt vor mir die Stiegen hoch. Zu seiner Quelle. Lockt mich. Ich setze einen Fuß nach den anderen. Versuche, den nächsten Balg nur seiner halben Luftfüllung zu berauben und den darauffolgenden nur noch um ein Viertel zu entleeren. Schneller und schneller steige ich auf. Leichter und leichter werde ich dabei. Trete schließlich nur noch mit der Zehenreihe auf.

Ein Blasebalg sticht mir ins Auge. Der ist so vollgesogen, dass sich seine Hülle wie die eines Ballons nach oben wölbt. Der kann wohl nicht genug bekommen, von der lichterfüllten Luft!? Gieriger Sack! Eine seltsame Lust steigt in mir auf. Mit großen Augen und Kribbeln im Bauch komme ich auf ihn zu. Ich will sein Licht. Atme aus. Entledige mich auch noch des allerletzten Restes Lungenluft. Schaffe Platz. Seine Menge an Licht wird ausreichen, um mich von innen auszufüllen. Muss nur meinen Mund wie ein Ventil formen. Erreiche seinen Vorderbalg. Nehme Anlauf. Mit Schwung springe ich so hoch wie möglich und treffe mit beiden Füßen zugleich auf. Komme in die Hocke und strecke ihm mein Ventil entgegen. Superfest, hart aufgebläht und stabil kommt er mir vor. Er trägt mich. Meine Lungen melden Lufthunger. Ich spüre eine leichte Vibration unter meinen Sohlen. Es ist soweit: Er will ausatmen. Komme mit meiner Schnute ganz nahe. Berühre das gummiartige Material. Der Balg gibt nicht singend Luft ab, sondern platzt. Explodiert neben meinem Gesicht unter meinen Füßen. 

Höre nichts außer den Nachhall des Knalls. Sehe nichts außer das hellste Weiß. Überall. Wo oben, wo unten? Ich stürze. Durch den Nebel. Ich rausche das Zentrum der Wendeltreppe hinab. 

Verliere den Schimmer von oben aus den Augen. Kerzengerade stoße ich neben den einzelnen Ebenen der Stiegenspirale hinunter. Kann die Blasebälge wie in Zeitlupe beobachten. Sehe, wie sie lichtgetunkte Luft auspusten. Sie seufzen. 

Höre sie über und neben mir ein mitleidsvolles Lied blasen. Tausend Stimmen. Werden leiser. Erkenne die ersten Stiegenreihen neben mir. Ich bin zurück am Start. Falle weich auf einen Riesenbalg. Der nicht platzt. Er fängt mich auf. Es ist meine Couch. Ich bin dir gegenüber am Sofa angekommen.

Etwas ist anders. Dein Atem. Zu schnell. Schaue dir ins Gesicht. Das ist unbewegt. Selig verschlossen deine Lider. Dein Mund öffnet sich einen Spalt breit. Lässt die Luft schnell zwischen den Zähnen durchsausen. Ein leiser hoher Ton kommt aus dir. Wie ein Pfeifen. Jetzt bin ich hellwach. Und neugierig. Lege mich wieder auf die Seite, um dich ganz genau beobachten zu können. Dein Gesicht ruht auf der Handfläche. Die sich von dort zurückzieht und unter der Decke verschwindet. Wieder hohes Pfeifen. Dein Oberkörper hebt und senkt sich mit dem Atem. Eine  leichte Falte entsteht zwischen deinen buschigen Augenbrauen. Tiefes Inhalieren. Die Lider flattern. Stehen sie kurz vor Öffnung? Ein fast leidender Gesichtsausdruck. Die Lippen öffnen sich ein wenig mehr. Zittern. Geben wieder den hohen Ton aus. Der hält diesmal etwas länger an. Wie gesungen! Du schiebst die Unterlippe nach unten, rümpfst die Nase und entblößt die Keramikbeißer. Ich muss fast lachen.

Die Falte zwischen den Augenbrauen wird tief. Deine Schultern ziehen sich nach oben. Der Oberkörper ist angespannt. Lider zittrig, immer wieder schaut mir daraus ein weißer Apfelspalt entgegen. Dir entkommt ein heftiger Sound. Er lässt mich an einen Juchitzer denken, der an einer schroffen Felsenkante bricht. Und aus. Dein Gesicht entspannt. 

Deine Schultern und der Oberkörper fallen locker zurück. Du holst wie aus tiefster Seele Luft. Daraufhin wird dein Atem ruhiger. Die Lippen schließen sich. Schmatzen, als hättest du etwas Gutes gekostet. Die Augenbrauenfalte ist wie ausgebügelt. Die Hand taucht wieder neben dir auf. Der Handballen schiebt sich zurück unter dein Gesicht. Die Wangen haben einen pinken Farbton angenommen. Ich habe gar nicht mitbekommen, wie und wann sich das Blut in den Gesichtspölster sammelte. Obwohl ich dich so genau beobachtete. Der Tüllemund scheint zu lächeln. Du schläfst ruhig weiter.

Ich möchte jetzt noch ein wenig neben dir liegen und dein schlafendes Gesicht betrachten. Das schaut so aus, als hätte es von alldem nichts mitbekommen. Zufrieden. At peace. Wunschlos. Wenigstens eine Zeit lang. Du schlägst die Augen auf. Dein schwarzer Bärinnenblick trifft mich ganz ohne Vorwarnung. Ich muss dir erschreckt entgegenschauen. Vielleicht werde ich rot. Meine Ohren fühlen sich heiß an. 

“Was ist mit dir? Konntest du nicht schlafen?”

“Doch, doch … Ich hatte einen interessanten Traum. Ich bin eine Treppe hochgestiegen. Die Stiegen bestanden aus Blasebälge.”

“Was hat dich oben erwartet?”

“Ein helles Licht. Sah nichts anderes. Ich wollte hinauf. Schaffte es nicht. Sie sangen ein trauriges Lied für mich.”

“Die Strahlen sangen?”

“Nein, die Blasebälge sangen.”

“Vielleicht warst du auf dem Weg in den unbegrenzten Raum. In das unendliche Weiß.”

“Der Ort war da, ich sah ihn mit eigenen Augen. Und doch war er irgendwie zugleich… inexistent. Dort oben erwartete mich die Auflösung, ich weiß es: Was ich sah, war das alles zersetzende Niemandsland in schwindelerregender Höhe.”

“Ich fühle mich auch etwas schwindelerregt, wenn ich ehrlich bin.”

Wäre gerne der Grund dafür. Seufze resigniert. Meine Hand fasst an die kalte Scheibe. Sie würde gerne bis zu dir kommen, um deine rote Wange zu berühren. Nur um zu spüren, ob du dich erhitzt anfühlst. Dir eine kühle Hand auf die Stirn drücken. Spüre Tränen stauen. Will es dir nicht zeigen. Wende mein Gesicht ab. Möchte dir nicht mehr in die Augen schauen. Weil wohin glotze ich eigentlich die ganze Zeit, wenn wir Blickkontakt halten? In Flüssigkristalle, statt in deine Tigeraugen. Und wohin schaust du? In eine Kamera, statt in meine Kontaktlinse. Wie und wo sollen sich unsere Blicke treffen? In einem unerreichbaren Niemandsland, wie das aus meinem Traum?Will nicht länger dabei zusehen, wie wir aneinander vorbeischauen. Will nicht daran verzweifeln. Will stattdessen mit dir erleben. Erkunden, was die Welt noch so zu bieten hat.

“Magst du gemeinsam aus dem Fenster schauen? Das taten wir doch immer so gern. Auch stundenlang, weißt du noch? Die Happenings draußen wurden uns nie langweilig. Egal wo wir waren: Immer gab es etwas Neues zu entdecken. Du sahst etwas, das ich nicht sah. Ich sah etwas, das du nicht sahst.”

“Keine Lust. Ist einfach nicht dasselbe.”

“Komm schon, lass es uns wenigstens versuchen!”

“Ich sagte Nein. Das geht so nicht. Zu hoch hier. Ich brauche eine Hand zum Halten, während ich einen vorsichtigen Blick aus dem siebenundzwanzigsten Stock riskiere. Scheiß Höhenangst, du kennst mich doch.”

“Ja, dann … Zeig mir wenigstens dein window view. Ich bin so gespannt, wie es gerade am anderen Ende der Welt aussieht. Du musst auch gar nicht mitmachen, wenn du nicht willst.”

“Okay, dann vertreibe dir eben die Zeit damit, aus meinem Fenster zu gaffen. Ich bin nicht dabei.” 

“Ich weiß.”,

hörst du vielleicht schon gar nicht mehr.

Ich stelle meinen Laptop trotzdem ans Fensterbrett und richte die Webcam auf die grüne Weite unter mir. Wie durch einen kleinen Guckkasten in der rechten oberen Bildschirmecke kann ich das Treiben in der wilden Natur unter mir beobachten. Schmetterlinge, bunte Vögel im Baum. Insektenschwärme tummeln sich dort. Spitze ich die Ohren, könnte ich wahrscheinlich sogar die Grillen zirpen hören. 

Stattdessen lässt mich lautes Hupen zusammenzucken. Du hast das Fenster geöffnet. Damit ich bessere Sicht habe. Richte mich ein auf meinem Beobachtungsposten. Schaue schräg auf den Bildschirm. Gebe mir die geschäftigen Straßen unter deiner Wohnung. Hochhäuser, Geschäfte, Cafes, Fressbuden. Alles gut besucht. Überall wurlt und wutzelt es. Autos, Motorroller, Radfahrer, Leute. So viele Leute. Habe ich schon lange nicht mehr gesehen. Trotzdem kann ich dich genau erkennen. Du hast einen grauen Ledermantel über deinen schwarzen Overall gezogen und trägst die pinken Schnürstiefel dazu. Schreitest damit entschieden durch mein Bild. Große Schritte auf den langen Beinen bringen dich schräg über die Straße. 

Dabei hältst du deinen Filzhut, der nur zur Hälfte die schwarzen Locken bedeckt. Du biegst in eine kleine Seitengasse ein und verschwindest im Betonmeer. Das kleine grüne Bild hat mittlerweile die Farbe verloren. Ich schaue aus dem Fenster. Der Abend legt sich über die Natur. 

Falls du wieder zurückkommst, wirst du einen schwarzen Bildschirm vorfinden und vielleicht denken, der Akku deines Laptops sei gar. 

Die Straße ohne dich erinnert mich an meinen leeren Magen. Ah, zum Glück habe ich noch ein halb gekochtes Abendessen. Werfe mein Schnitzel in die Pfanne und röste die Kartoffeln. Schnell gemacht. Nur noch etwas Petersilie drüber – fertig. Komme mit dem Teller zurück in die Straßenhektik. Nach wie vor fehlt die Protagonistin der Szene. Der Film wird zum nichtssagenden Bildschirmschoner.

Beiße voll hungriger Gier ins Fleischstück. Waah, aber was ist denn damit passiert? Stechend schmerzhafte Salzigkeit! So salzig, dass der Klumpen fast sauer im Mund liegt. Ich drücke ihn angeekelt mit der Zungenspitze hinaus, speie ihn in die rechte Hand. Spucke nach. Wasser! Schnell!

Oh, jetzt fällt es mir ein! Ich war so dermaßen fasziniert von deiner Barbiepuppenshow, dass ich den Salzstreuer wie eine Rassel im Takt über dem Schnitzel geshaket habe. Den ganzen Song lang. Scheiße. Voll verhaut. Das kann kein Mensch mehr essen. Beiße unglücklich an den Kartoffeln herum, während ich mir wieder Flüssigkristalle in Action anschaue. Die Erdäpfel schmecken langweilig alleine! Denke an deine Küche und dein halb fertiges Fressen. Könnte ich jetzt nur durch unsere Bildschirme greifen und dir dein Mittagsschnitzel klauen!