2017
-Auszug aus dem ungehobelten Brett, Kapitel Igor-
Igor im Hangover
Ich kann nicht alle seiner Tätowierungen entziffern, wenn ich ihn zum ersten Mal treffe. Im Hangover, dem abgefuckten Westlerklub im Keller eines zentrumsnahen Wolkenkratzers ist underground rave night und das im subtropischen Sommer mit kaputter Klimaanlage. An Igor fällt mir nur sein weißes Skelett, das im Schwarzlicht leuchtet auf. Dazu reflektieren seine Brillengläser das Licht des Stroboskops, was zu Alienaugen führt. Ansonsten wäre der junge Mann unscheinbar geblieben: mittelgroß, schlank, schmalschultrig, kurze Haare, Brille. Er weiß um die Wirkung seines Outfits, ist stolz auf das skelettierte Shirt und biegt die leuchtende Wirbelsäule im Takt wie das Lasso eines Cowboys. Ich winde mich durch die Menschenmenge näher an ihn heran um zu sehen, ob das Skelett auf der Rückseite ein unverhofft witziges Detail wie zum Beispiel einen Wolfsschwanz hat. Er zeigt mir die leider lebensgetreue Rückansicht und meint, so verschwitzt, jetzt müsse er das ausziehen. Er tanze nicht gerne oben ohne, weil die crazy Shirts in China einfach zu gut kleiden, so günstig sind und noch dazu geile Extrafeatures wie Licht, Kristalle und Pulsmesser integriert sind. Er stellt jedes Wochenende ein anderes zur Schau. Aber andererseits sei er froh, dass er jetzt auf nackter Haut besser seine Halsketten mit Tiger und anderen wilden Zähnen herumschleudern kann und zeigt stolz auf seine zahlreichen bunten Tatoos. Ein lustiger Selbstdarsteller ist dieser Russe, vielleicht so ähnlich wie ich! Sein kalt verschwitzter Body, an den ich während des Regentanzes immer wieder stoße ist glitschig wie ein Riesenwurm, der das erste Klopfen der Tropfen vernimmt und sich daraufhin aus der Erde windet. Etwas grausig, kommt mir vor. Aber ich bin zu betrunken, um mich darum zu kümmern, den Körperkontakt beim nächsten Bouncen zu vermeiden. Er müsse jetzt gehen, meint Igor, es sei immerhin vier Uhr morgens und sein mexikanischer Mitbewohner warte darauf, dass ihm Frühstück serviert wird. Der bombardiere ihn schon ungeduldig mit Nachrichten, Einkaufslisten und Getränkewünschen und droht im Falle einer verspäteten Fütterung mit piesacken.
Am Fluss
Wir sitzen am Perlfluss aufgefädelt und schieben Kartons in unsere Hosen, um auf den regennassen Parkbänken im trockenen zu bleiben. Vor uns an der Promenade spielt sich ein chinesisches Lustspiel ab und wir schauen mit einem Kübel Popcorn zu. Auf eben noch zärtliches Küssen des jungen Paares folgt ein kurzer Wortwechsel und schon bahnt sich die Krise in der Romanze an. Die junge Chinesin reißt eine neben ihr im Topf wachsende Pflanze mitsamt Wurzel aus und schlägt damit auf ihren Geliebten ein. Die Erde fliegt bis zu uns ins Publikum. Ihr Kavalier lacht und flüchtet aber schnell ins nächstgelegene Gebüsch. Sie ihm nach und dann hören wir nur noch rappeln in den dichten Zweigen. Dem neben mir sitzenden Igor fällt es mehr als schwer, nicht auf der Stelle einen Kommentar dazu abzugeben. Seine Augen schauen aufgeregt von der Szene zu mir und wieder zurück und er macht sich schon mit bestätigendem Nicken und Geräuschen bemerkbar. Das Popcorn in seinem Mund knackst aber gerade so laut, dass sich die zum Herauspurzeln in der Schlange stehenden Wörter gedulden müssen. Bis die den Ausgang verstopfenden Störenfriede unten angekommen sind, zeigt Igor ungeduldig mit den Zeigefinger immer wieder auf das Gesehene, als würde er eine unsichtbare Morsetaste bedienen.
Igor sei vor vielen Jahren nach China gekommen und Erzähler, sagt er mir, wenn ich mich nach seinem Job erkundige. „Du meinst also Lügenbeutel?“ Nein, Igor bleibt ernst: Damit habe die Sache denkbar wenig zu tun. Es handle sich eher um eine lebensnah angewandte Art der Schauspielerei. Als Exempel beginnt er in einer nahezu unnachvollziehbaren Geschwindigkeit zu sprechen. Er baut geschickt gute und vermeintlich schlechte, die in Verbindung mit den nicht auf Anhieb verständlichen zu kuriosen Scherzen werden, in seinen Monolog ein. Ein Teil des Wortschwalls beschreibt den besonderen Umgang mit seinen russischen Freunden. Igor muss demnach schwer Gepäck schleppen und seinen Kumpels im Fall eines Wiedersehens im Heimatland eine mit Wodka gefüllte Gießkanne mitbringen. Sie dient dazu, die Leute davon abzuhalten, ihn auf der Stelle niederzuringen. Sergej‘s Geburtstag: Du warst nicht da! Ljudmila‘s Hochzeit: Du warst nicht da! Wladimir‘s Beerdigung: Du warst nicht da! Galina‘s Geburt: Du warst nicht da! Die menschlichen Fleischberge zeigen sich versöhnlich, wenn ihnen die Möglichkeit einer Dusche mit viel Alkohol zur Verfügung steht. Warum? Der kühle, scharf auf der Haut britzelnde Wasserstrahl erinnere sie an das Rieseln des kalten Schnees im frostigen Wasserbad nach der geselligen Entspannung in der Banja. Der Wodka soll für die vielen feuchtfröhlichen Nächte entschädigen, die der Reisende nicht in ihrer Mitte verbrachte. Auf diese Weise können die Freunde die kleinen Freuden des Lebens mit Igor teilen. Es sei also für seine Leute den entscheidenden emotional überflutenden Moment lang so, als wäre er nie weggegangen.
Ansprache
Igor erzählt mir von der Geschichte seines Lebens. „Seitdem ich reden kann bin ich sprachlich gut drauf und weiß mein gewitztes Wortspiel zu schätzen. Als Kind bat ich meine Mutter, mir täglich Buchstabensuppe zu kochen. Ich wollte nichts anderes am Teller haben und die Vielzahl an treffenden Argumenten war so ergreifend, dass sie mir den Wunsch erfüllte. Ich legte die Buchstaben zu Stories, die sich bald über den ganzen Mittagstisch verteilten. Und gab sie dann im Beisein meiner Familie zum besten, während mich der Hunger übermannte und ich die Wörter gierig einsog.“
Gar nicht so lang ist sein bisheriges Leben, wie ich erfahre. Unwahrscheinliche Schätze kramt Igor daraus hervor. Das Gesicht des Mittdreißigers ist unversehrt und strahlt von Jugendlichkeit. Kommt die von der Freude über den bodenlosen Pool seiner guten Erzählungen? Sie und er werden von Männern verehrt und von Frauen geliebt, meint der Gesprächige. „Gar nicht so leicht ist mein bisheriges Leben aber auch. Manche Leute belagern mich und meine Kunst. Als würden sie etwas vom Glanz meiner Worte besitzen wollen. Der Mensch taucht mitunter so tief in eine gelungene Geschichte ein, dass die eigenen Probleme in den Hintergrund treten und für kurze Zeit vergessen werden können. Ist sie zu Ende, steht plötzlich das meist wenig glitzernde alltägliche Leben wieder im Fokus. Meine Story kann nicht festgehalten oder konserviert werden. Wie ein reifer Apfel vom Baum mag sie sofort verspeist werden. Sonst verliert sie ihre Frische. Also müssen die Menschen wieder zur Quelle, also zu mir kommen. Aber ich brauche ja auch Zeit zum Durchleben von Stoff für neue Geschichten und muss zudem noch andere Zuhörer beglücken. Um ihre volle Wirkung zu entfalten, ist meine Erzählweise an die Eigenheiten des jeweiligen mir bekannten Hörers angepasst. Erinnerst du dich an die Geschichte meiner russischen Freunde? Mir ist nicht entgangen, dass dein Herz im honigsüßen Sirup des unverbesserlichen Glaubens an die Liebe und an das ewig haltbare Freundschaftsband feststeckt. Der Kitsch deiner dich zum Narren haltenden pinken Götterspeise macht ihm das Schlagen schwer und ist dir unangenehm, deswegen versuchst du ihn zu verbergen. Umso deutlicher für mich! Verstehst du jetzt? Ich erzähle Geschichten nach Maß. Deswegen geht das Fremdlauschen in jedem Fall schief. Das nervenaufreibend obsessive Verhalten der Storystalker nütze ich auch als Thema für interessante neue Geschichten.“
Ich schaffe es
Ich bin am Weg zur Bierbar, wo ich Igor treffe. Die U-Bahn ist so menschenüberflutet, dass ich drei Züge abwarten muss, um ein Plätzchen darin zu ergattern. Ich bin schon recht spät dran und drängle hinein. Während ich versuche, den Ellenbogenstößen, die auf Höhe meiner in der weichen Bauchdecke ungeschützt liegenden Eingeweide abgegeben werden, auszuweichen, bekomme ich ungeduldige Nachrichten vom bereits Wartenden. Die Länge der Texte ist vergleichbar mit dem Umfang seiner verbalen Ausführungen. Ich überfliege sie ungeduldig und versuche, zur Essenz vorzudringen. In einem davon beschreibt er sich als “wartendes Arschloch zwischen den die Ritze kitzelnden Rattenschwänzen des Großstadtdrecks“. Ich muss trotz seiner misslichen Lage grinsen und verstehe, warum ich mich immer wieder seinen Wortschwallen aussetze. Sind doch auch Schätze darin versteckt. Ich weiß, dass einige Gegenden Guangzhou‘s nicht zum Verweilen einladen, weil Lärm, Gestank und Parasitenüberfülle dort jeden Nichtchinesen in die Flucht schlagen. Im Sommer, also jetzt kommt unerträglich feuchte Hitze dazu. Vor der Bar ist eine ebendieser Gegenden. „Setz dich derweil in die Bar und bestelle dir ein Bier, ich bin schon am Weg.“ Zwei Minuten vergehen, ehe er sich wieder meldet. Wäre das wohl anders, wenn man noch wie damals für Textnachrichten bezahlen müsste? „Ich versuche, den Hintern aus der Mülltonne zu bekommen, scheine aber darin festzustecken. Hast du eine Idee?“ Ein Selfie davon ist angehängt. Ich bin mir sicher, dass Igor diese ungemütliche Sitzgelegenheit nur des Schnappschusses wegen ausgewählt hat. Bin genervt darüber, dieser elendige Poser! Jetzt steckt er in der Klemme und ich soll ihm aus der Ferne da raus helfen? Wenn ich mir das Foto nochmals anschaue, bin ich aber gleich versöhnlich gestimmt: Ich hätte mich an seiner Stelle wohl genauso dazu verleiten lassen. Man kann Igors lange dünne Beine mit den bunten Turnschuhen und das sonnenbebrillte Gesicht erst auf dem zweiten Blick unter dem Müll ausmachen. Er raucht cool einen abgebrochenen Stummel und hat eine Bananenschale am Kopf, was ich persönlich etwas überinszeniert finde. Trotzdem bin ich neidisch auf das tolle Foto.
einfach nicht
Die U-Bahn bleibt mitten im Tunnel stehen. Der Grund dafür wird mittels stiller Post durch die Bahn getragen. Kurz darauf lese ich die Story mit dazupassendem Video auf WeChat, dem chinesischen Facebook. Das auf den ersten Blick nahezu unglaubliche, aber wenn ich mir die unkontrollierbare Menschenmasse anschaue, doch gar nicht so abwegige Vorkommnis passierte in einem der vorderen Waggons. Ein kleines Kind wurde offenbar beim Eintritt in die U-Bahn von der Hand seiner Mutter gerissen und in eine andere Richtung weggeschwemmt. Daraufhin so weit unten in Bodennähe von allen übersehen und in der Menge stark zusammengedrückt. Weil sein lautes Schreien im allgemein hohen Lärmpegel unterging, verbiss es sich in den von kurzer Hose unbedeckten Waden eines nahestehenden Erwachsenen. Auf den lauten Schreckschrei des verletzten Mannes hin betätigte jemand die Notbremse.
lebend
Meine Lungen sind vom Platzmangel umgeben sauerstoffarm und können den lauten Seufzer, der jetzt fällig wäre, nicht ausstoßen. Ich spüre Verzweiflung in mir aufsteigen und sehe die Zeit im Dauerpresszustand des geschlossenen Waggons still stehen. Meine Platzangst steigert sich von Sekunde zu Sekunde und die Augen füllen sich mit Salzwasser. Während ich die Galle wieder nach unten zwinge, hebe ich die besmartphonete Hand zum Gesicht, um mich abzulenken. Igor schildert in fünf weiteren Nachrichten seine Lage. Er fragt nach, ob ich sein Foto erhalten habe und meint, er hätte es mittlerweile eigenständig aus der Tonne geschafft. Jetzt sitze er an der Bar. Wegen der Riesenauswahl habe er Schwierigkeiten, sich für ein Bier zu entscheiden und würde sich über einen Tipp meinerseits freuen. Angehängt ist eine Liste mit Getränken und seinen Kommentaren zum jeweiligen Preis-Leistungsverhältnis. Er beschreibt auch ihre Geschmacksnoten und seine Assoziationen dazu. Ich habe die meisten der Biernamen noch nie gehört und markiere ein mittelpreisiges belgisches aus der Liste, das er mit dem Vermerk „erinnert mich an den bittersüßen Geschmack einer verlorenen Sommerliebe“ versehen hat.
zur Bierbar.
„Igor, ich weiß nicht, ob ich jemals ankommen werde.“ Der U-Bahn Fahrer macht eine Durchsage: Der Zug müsse in der nächsten Station geräumt werden. Es handle sich dabei um eine Routinemaßnahme, die nach jeder Notbremsung durchgeführt werden müsse. Von der Station aus möchte ich ein Taxi nehmen. Ich kann nur hoffen, dass die Straßen halbwegs verkehrsberuhigt sind. Von Igor kommt keine Nachricht mehr zurück. Wahrscheinlich ist er mit dem bestellten Bier und den von seinem Geschmack ausgelösten Erinnerungen beschäftigt. Ich wälze mich in der Masse die Rolltreppe hinauf, um endlich frische Luft zu schnappen. Gebe mir währenddessen das Versprechen, nie wieder in der Rushhour, also von Nachmittag bis spät Abends ein an eine Uhrzeit gebundenes Treffen zu vereinbaren. Natürlich bin ich, oben angekommen, nicht der einzige Mensch, der auf ein Taxi ausweichen möchte. Ich reihe mich also in die Schlange der vor und dann in leere Taxis springenden Menschen ein und warte. Eine halbe Stunde später ergattere ich endlich ein Vehikel und gebe dem Fahrer die Adresse. In dem Moment ruft Igor an. „Ich bin aufgerauht vom schmerzhaften Sitzen in der Tonne und stinke womöglich. So sehr, dass ich es nicht mehr riechen kann. Ich überlegte hin und her, wie ich auf deine mittlerweile eineinhalbstündige Verspätung reagieren soll. Schwanke zwischen nach diesem Bier einfach nach Hause gehen und recht viel teures Zeug saufen, um dir dann mit beleidigtem Gesicht meine Rechnung zuzustecken.“ „Warte, Igor. Bevor du weiter ausführst. Wenn alles gut geht, erreiche ich die Bar in zwanzig Minuten. Mach es dir gemütlich, ich lade dich als Entschädigung auf eines der getrunkenen Biere ein. Nach diesen Strapazen für dich und mich würde ich echt gerne ein kühles Getränk genießen und wäre erfreut, wenn du mich dabei unterhältst.“ Das scheint Igor milde zu stimmen. Er gibt zustimmendes Murmeln von sich. Ich höre das Glucksen von Bier, das eine Kehle hinunterrinnt und wollte, es wäre schon meine.
In der Bierbar
Ich bin nervös, wenn ich aus dem Taxi steige. Igor‘s Unberechenbarkeit, für die ich ihn eigentlich sehr schätze, könnte mir schockierend entgegenschlagen. Zu meinem Erstaunen zieht er draußen vor der Bar hin- und hergehend an einer Zigarette. Er wirft mir einen kurzen Blick zu, aber ehe ich die Hand zum Gruß heben kann, schmeißt er den Stummel in den Gulli, dreht sich um und läuft in das Lokal. Drinnen empfängt er mich neben der Bierflasche an der Bar sitzend, so wie ich ihn mir vorgestellt habe. Ja, er stinkt ein wenig nach Müll. „Ich dachte, ich muss jetzt schnell mein neues Bier an der Bar beschützen, bevor du hereinkommst.“ Ich sage Ah und Hallo und lasse mich etwas verunsichert aber erschöpft auf dem Barhocker neben ihm fallen. Er springt gleich wieder auf und umrundet die Bar in schnellen Schritten. Schaut dem gut gebauten Kellner dahinter beim Coctailschütteln über die Schulter, schleckt die Zitrone aus dem gerade gemixten Becher in seinen Händen und legt sich dann mit weit geöffnetem Mund unter die Zapfsäule. Bevor er aufdrehen kann, packt ihn der Bartender am Arm und zieht ihn aus dem Ausschankbereich, was sich Igor brav gefallen lässt. Wieder neben mir am Hocker. Ich schaue in der Bar herum und versuche mir etwas einfallen zu lassen, das Igor‘s Level an Energieeinspeisung und Ausschüttung wieder in eine harmonische Balance bringen könnte. Die wenigen Leute im Lokal sitzen entspannt an den Tischen, genießen ihr Getränk und unterhalten sich. „Ich glaube, wir sind hier am falschen Platz. Magst du in einen Klub gehen, in dem wir uns das Herz aus dem Leib tanzen können? Und schreien, weil man ohnehin kein Wort versteht? Oder draußen auf einer leeren Straße Fuß über Kopf schleudernd um die Wette laufen?“ Doch Igor lacht nur und meint, er möchte den Ort an seine jeweilige Stimmung anpassen und nicht umgekehrt. Ich gehe aufs Klo, um Abstand von ihm zu gewinnen und um nachzuschauen, ob das Narrenkastl in der Kabinentür eine gute Idee für mich vorbereitet hat. Es zeigt mir manchmal eine, wenn ich lange genug sitze.
Wenn ich zurück ins Lokal komme, hockt Igor nach wie vor alleine über sein Bier gebeugt an der Bar. Er schaut mit gleichmäßigem Kopfwanken hin und her. An sich herum und hinunter auf den Boden. Macht dabei Anstalten, seine Brille immer wieder auf die Nasenwurzel zu schieben, wo sie aber ohnehin sitzt und ihre Position auch beim Beugen des Kopfes nicht ändert. Er erinnert mich an eine sich in Zeitlupe nach Körnern umschauende Taube. Was sucht aber er? Statt wie das Tier von hektischer Hungerlust getrieben wirkt er dabei eher resigniert. Komisch ist, dass Igor mir darauf nicht richtig antworten zu können scheint. Wie ein schon bis zum letzten Rest ausgedrückt leise vor sich hin pfeifender Blasebalg kommt aus seinem Sprechorgan nur ein loser Lufthauch.
Ich denke: Vielleicht ganz etwas anderes tun. Ein Kneipenspiel könnte beruhigend auf Igor wirken und ihn ablenken. „Tischtennis kommt keinesfalls in Frage. Wenn unter unseren Gegnern Chinesen sind, was höchstwahrscheinlich der Fall sein wird, dann haben wir verloren, bevor wir das Spiel überhaupt erst begonnen haben. Das würde dir in deiner jetzt so melancholisch ruhelosen Stimmung wahrscheinlich nicht gut tun. Also probieren wir Tischfußball. Ich war nie eine schlechte Stürmerin.“, entscheide ich, plötzlich redegewandt, so als müsste ich Igor‘s fehlende Worte an seiner Stelle ausspucken. Wir verlieren ein Spiel nach dem anderen gegen zwei chinesische Jungs. Interessanterweise findet Igor nach und nach Gefallen an der Tätigkeit. Die leeren Ausrufe der Spieleremotionen scheinen ihn zu packen. Er fiebert mit. Bei meinem ärgerlichen Fluchen genauso wie bei den Gegnern, die ihrer Freude über ein Tor unverhohlen mit lautem Johlen Ausdruck verleihen. Ich bin gar nicht so gut im Sturm wie ich dachte. Die schnellen Bälle der Chinesen flitzen an meinen im richtigen Moment untätigen Händen vorbei. Ich bin es leid, zu verlieren und doch immer wieder nach Revanche zu verlangen, weil Igor keine Ruhe gibt. Mache halt ihm zuliebe weiter. Nach ein paar verlorenen Spielen aber passiert etwas in mir. Die Wiederholung des Immergleichen scheint eine meditative Wirkung auf mich zu haben. Der schnelle Ball, das Wirbeln der flinken Hände, das breite Lachen der Spielgegner. Igor, in einer kindlichen Freude zehenspringend neben mir. Ich tauche ein in das wilde Zucken der aufgespießten Plastikmännchen. Die Auswirkungen ihres Wuzzelns auf uns Spieler kommt mir auf einen Schlag seltsam abstrakt vor. Das vorher wie wild erstrebte Gewinnen verliert all seine Substanz.
Obwohl wir Matches später nach wie vor ein hoffnungslos abstinkendes Team sind, gibt Igor seine erwachte Motivation nicht mehr auf. Mich hat die Zeitschleife am Knöchel gepackt und kettet mich zum Wuzzlertisch. Im sinnlosen Loosen habe ich eine nicht unangenehme Gleichgültigkeit gefunden. Und wir fordern noch ein Spiel, und noch eines. Bis, womöglich Stunden später, die beiden Chinesen genug vom Gewinnen haben und sich verabschieden.
„Jetzt ist es auch für uns an der Zeit, nach draußen zu gehen.“ Ich folge Igor vor die Bar, wo uns Hitze und Müllgestank entgegenschlagen.
„Du warst zur Zeit der Geschichte nicht da. Ich versuchte, sie für dich aufzubewahren, aber sie verkroch sich. Wurde dann zu einem dichten Kloß. Schließlich begannen alle Wörter zu fehlen. Der Körper wurde erst fahrig und verlor danach alle Kraft, weil er nichts anderes weiß als sprechen.“
„Das heißt wohl, ich werde die Geschichte nicht mehr hören, oder?“
„Ja, die ist weg. Aber da ist etwas anderes.“
Igor packt den Beginn unserer Bekanntschaft aus. Er möchte ansprechen, was wir bisher zwischen uns schlummern ließen, weil konfus und peinlich berührend. „Nach der Tanzerei im Hangover dachte ich, du wärst eine Halluzination gewesen. Weil auf das Wählen deiner Nummer eine Fehlermeldung kam, nahm ich an, ich hätte dich und das Bouncen mit dir nur imaginiert.“ Ich als Halluzination ehrt und rötet mich. Weil ich von einem märchenhaft den Geist narrenden Trugbild ausgehe:
Die Traumfrau im Club. Mit ihr in Hitze nass glänzend tanzen und in den Morgenstunden löst sie sich plötzlich auf. Ihre Herkunft: Fadenscheinig. Ihre Telefonnummer: Inexistent.
Kurz darauf fällt mir ein, dass herkömmliche Halluzinationen, genau wie Träume mit viel Alltäglichem, Fehlplatziertem und auch Hässlichem aufwarten können. Ich sage also nichts dazu. Aber Igor wartet. Weil was danach in der Geschichte unserer sich nicht weniger skurril weiterentwickelnden Bekanntschaft kommt, eigentlich von mir kommentiert werden sollte. Und weil Igor nicht aufhört mich auffordernd anzublicken, beginne ich zu erzählen. Ich muss ihm das Geschehene so wahrheitsgetreu wie möglich abliefern. Keine andere Wahl, weil keine schlaue Lügnerin: Ich würde mir ständig widersprechen, die Übersicht verlieren und könnte die Schmähstränge am Ende nicht zusammenführen.
Kurz nach unserem ersten Treffen wurde meine chinesische Simkarte aufgrund verdächtig lang ausfallender Telefongespräche ins Ausland gesperrt. Deswegen die Fehlermeldungen an Igor. Einen Monat später konnte ich den Verdacht auf Spionagetätigkeiten ausräumen und die Karte wurde wieder freigeschaltet. Ich war frei endlich wieder sorgenlos zu simsen und auf diese Weise Kontakte zu pflegen. Stolperte dabei über eine Nummer eingespeichert unter dem Namen ‘EyeGoreNutcase‘. Das war doch der bunt gepeckte Regenwurmtänzer. Fand mich sofort in aufgeladener clubbing-Stimmung wieder. Mit dem Unterschied, dass meine Verfassung im Hangover eher versunken und kopfschwindelnd wirr war und ich meist damit beschäftigt, Galle hinabzustoßen, meine Erinnerung die Szene jedoch durch ein rosarot glitzerndes Kaleidoskop zog. Also aufgezwirbelte Suche nach gleichgesinnten Eskapisten und sie begleitende Hornyness anstelle von wellenbrechender Körperlosigkeit.
„Feasible ist alles, wenn man es geschickt genug auffieselt, nicht wahr?“, sagte ich mir und textete Igor mit schielendem Lachen und wahrscheinlich den Smartphonebildschirm mit der Nachricht reflektierender Augen: „Ich lade dich mit größter Freude zu einem von glamorösem und möglicherweise auch amorösem Auftreten unübertroffenen Besuch in mein kleines Reich ein.“ Verfasste die SMS extra in einer hochgestochenen Sprache, um auf eine Absage hin kontern zu können, dass es sich dabei nur um einen Scherz gehandelt hätte.
Das auf diese Weise mit hitzigen Wangen von mir erzählt bekommend, macht Igor schmunzelnd. Ich hetze über die Wörter in der Hoffnung, ich könnte die Zeit dadurch vorantreiben, gebe ihr die Sporen, spreche ohne Unterbrechung und bin außer Atem. Völlig eingestürzt bin ich in die Peinlichkeit und im Nachhinein wie immer kopfschüttelnd über meine überbordende Manie. Ich kann Igor nicht anschauen und presse mit dem Turnschuh einen herumliegenden Schlammball zu einer glatten Scheibe. Konzentriere mich auf meine Sohlenabdrücke darauf. Mit eng den Hals zuschnürender Krawatte erwarte ich in gespannter Verlegenheit Igor‘s Weiterführung. Kurz schaue ich in sein Gesicht, das wie immer ist. Als Profi-Erzähler ist er wohl mit allen Wortschwallen gewaschen und kann Gefühlsregungen kontrollieren und zugunsten der Lebhaftigkeit seiner Story einsetzen.
„Bei Erhalt deiner Nachricht musste ich mehrmals darüberlesen: Übermannend saftiger Inhalt absolut unerwartet einen Monat nach der ersten Zusammenkunft, dazu schwülstig geschrieben? Das konnte nur wieder eine Einbildung sein. Minutenlang zerbrach ich mir den Kopf darüber, in welcher Form ich darauf antworten könnte. Verfasste etwas bodenständiges: „Ich armes Würmli komme morgen Abend durch deinen Türspalt gekrochen.“, legte das Handy eine Weile beiseite, löschte dann den Text wieder und sendete dir schlussendlich vermischt zusammengesetzte Fragmente aus gerade konsumierten Entertainment-Gütern. Ich hoffte, es würde für das Trugbild, das ja vielleicht mein Unterbewusstes symbolisiert, ein großes Ganzes ergeben: „blue your house with a blue little window where I can sneak in? Truman: extend your index finger to phone home. Your mam says the show is over!“
Igor‘s Rückmeldung war für mich derart kryptisch, dass ich sie weder als Zu- noch als Absage identifizieren konnte. Dabei beließ ich es, denn bei meiner in Libidotiefe eingetauchten Hochstimmung glätteten sich langsam aber sicher die Wogen. Dann herrschte wieder für längere Zeit Funkstille zwischen Igor und mir. Aber ich litt unter zu geringem sozialen Austausch. Mein Einfühlungsvermögen drohte zu verkrüppeln. Der einzige und beste Freund ächtste bereits unter der Last, jede meiner zahlreichen Sehnsuchtsattacken nach geistiger Verwandtschaft abfedern zu müssen. Und so entschloss ich mich, nochmals einen Schritt auf Igor zuzumachen und ihn so locker wie möglich auf ein Bier einzuladen. Er hatte Interesse, sich der mich umgebenden, ihm nach wie vor dubios erscheinenden Atmosphäre zu stellen und sagte zu. Also schafften wir es, nebeneinander am Perlfluss aufgefädelt zu sitzen und uns ein chinesisches Lustspiel anzuschauen.